25 März, 2016

Was ist das für ein Gefühl?

Dass Blickkontakt, Körperkontakt und Nähe schon für Säuglinge und Kleinkinder sehr wichtig ist, war mir eigentlich schon immer klar.
Wie wichtig und notwendig die Nähe zu den Eltern aber tatsächlich ist, wurde mir erst nach dem Besuch des Hebammenkongresses Anfang März richtig klar.

Der Vortrag von Volker Busch* war sehr augenöffnend und mir liegt es am Herzen, euch meine Aha-Effekte näher zu bringen. 



Alexithymie.
Habt ihr das schon mal gehört?
Vermutlich nicht. Auch für mich ist der Begriff völlig neu gewesen. Das Persönlichkeitsbild dahinter kennen wir aber bestimmt alle! Wer von euch kennt Sheldon Cooper von der Big Bang Theory? Das niedliche, leicht weltfremde Genie, dass Ironie nicht von Sarkasmus unterscheiden kann und sich mit zwischenmenschlichem Umgang, zum Beispiel mit seiner festen Freundin Amy Farrah Fowler ziemlich schwertut.

Dieser "Serienheld" kam mir bei den Erläuterungen zum Thema Alexithymie gleich in den Sinn.

Alexithyme Menschen können Stimmungen und Emotionen nicht lesen, wahrnehmen oder beschreiben. Weder von sich selbst, noch von anderen.
Das erschwert den Umgang mit Mitmenschen enorm.
Diese Menschen können zwar in gewisser Weise verliebt sein, jedoch keine echte Liebe empfinden oder geben.
Sie können nicht erkennen, wenn sich der Partner über ein Ereignis freut und reagieren mit unpassenden, sachlichen Kommentaren.
Sie empfinden keine Trauer, wenn ein Familienangehöriger stirbt und können nicht mit der Trauer der Angehörigen umgehen.
Statt Blumen zu schenken, würden sie zum Beispiel einfach den Geldbetrag weitergeben und könnten nicht verstehen, warum die Freude darüber nicht die gleiche ist.
Sie umarmen selten, wirken kalt und distanziert.

Alexithyme Menschen sind wenig emphatisch und im wahrsten Sinne des Wortes gefühlsblind.


Vielleicht haben viele von euch jetzt auch einen Mitmenschen vor Augen, auf den diese Merkmale teilweise zutreffen?
Das wäre nicht ungewöhnlich, denn "selten" ist Alexithymie nicht. 17% der Männer und 9% der Frauen (unabhängig von sozialer Schicht, Wohnort oder Alter) haben dieses vermeintliche "Herz aus Eis".

Es handelt sich dabei aber nicht um ein Krankheitsbild. Alexithymie ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das mehr oder weniger stark ausgebildet sein kann. In manchen, meist beruflichen Situationen ist es sogar hilfreich. Mich als Ingenieurin in der Automobilbaubranche würden Entscheidungen aus rein technischer Sicht manchmal sicher schneller weiterbringen, als das typische "Bauchgefühl", das sich bei der Entscheidungsfindung doch immer einmischt.


Was ist das für ein Gefühl? 

Die Basis für ein alexithymes Verhalten kann schon in der Kindheit gesetzt werden.
Kinder kommen mit einer emotionalen Grundausstattung auf die Welt. Sie können lachen, weinen, kennen Schmerzen und Angst. Doch viele Gefühle müssen erst kennengelernt werden.

Eine Emotion besteht aus einem Gefühl und einer Körperreaktion. Diese Korellationen müssen erkannt und verstanden werden.
Warum rast mein Herz gerade? Weil ich ängstlich bin?
Warum bekomme ich Bauchweh? Weil ich unsicher bin?
Warum schmerzt mein Rücken? Weil ich angespannt bin?
Warum kribbeln meine Knie? Weil ich verliebt bin?
Wie fühlt sich Verachtung an? Wie Verantwortung? Wie Dankbarkeit? Wie Liebe?
Fragen, die wir selbst vielleicht teilweise nicht genau beantworten können. Wie soll ein Baby oder Kleinkind das alles verstehen?

Es ist auf Eltern und Vertrauenspersonen angewiesen.
Empathie ist nicht angeboren - wir müssen sie erlernen.

Die frühkindliche Erziehung kann das spätere Persönlichkeitsbild unserer Lieblinge stark beeinflussen.
Jeder kennt die Sprüche, wie "Ein Indianer kennt keinen Schmerz".
Vielleicht ist uns im Alltagsstress auch schon mal ein "Hör jetzt auf zu Weinen", "Das ist doch überhaupt nicht schlimm" oder "Das tat doch gar nicht weh" rausgerutscht.
Diese, wahrscheinlich nicht mal böse gemeinten Sprüche sollen eigentlich beruhigen, Mut machen... und das möglichst schnell und effektiv, damit endlich wieder Ruhe ist und kein unnötiges Drama entsteht.
Autsch...

Doch die Emotionen müssen raus, damit wir sie fühlen können. Wer in der Schule Latein hatte, weiß: emovere heißt "hinausschaffen" "austreiben".
Die Gefühle müssen also raus! Können oder dürfen sie es nicht, setzt es uns unter Stress. Wir erlernen den Umgang mit den Gefühlen nicht.


Schau mich an und lerne von mir. 

Die emotionale Entwicklung unserer Kinder liegt in unserer Hand.
Aber auch in unseren Augen... in unseren Gesichtsausdrücken!

Kleinkinder lernen aus der Interpretation unserer Blickkontakte. Babys spiegeln unsere Gesichtsausdrücke. Ein Lachen wird "ansteckend", ein trauriges Gesicht wird nachgemacht, die Zunge wird heraus gestreckt, wenn wir es vormachen. Diese süßen Fratzenspiele machen nicht nur Spaß, sie dienen auch der Entwicklung.

Die meisten von euch haben schon mal diese Erfahrung gemacht:
Das Baby weint. Wir kommen als Mama oder Papa dazu und wollen es trösten.
Was machen wir? "oh, armes Mäuschen... was ist denn mit dir?"
Was macht unser Gesicht? Es spiegelt den schmollenden, traurigen Gesichtsausdruck des Babys.
Doch dann kommt der Trick.
Wir ändern im weiteren "Gespräch" unsere Stimme, unsere Stimmung. Wir beruhigen das Baby, und fangen an es anzulächeln.
Das Baby lächelt zurück. Es spiegelt uns. Es lernt. Es deutet unseren Gesichtsausdruck und es ändert seine Stimmung. Empathie.





Ich hoffe ich konnte euch meine Gedanken mit diesem Beitrag etwas näher bringen. Das Erlernen und Verstehen von Gefühlen ist so wichtig und wir können schon so früh dazu beitragen und unseren Kindern helfen ein gesundes Urvertrauen ins Leben zu entwickeln.

Was sind eure Erfahrungen zu diesem Thema? Gibt es bei euch Berührungspunkte?


Lieblingsgrüße!

P.S.:
Wen es interessiert. Ich habe einen kleinen Test zur Alexithymie gefunden, den ihr hier machen könnt. Inwiefern der Test aussagekäftig ist, kann ich natürlich nicht sagen. Die Fragen sind teilweise schon vorhersehbar, doch wenn man bewusst und ehrlich antwortet, kann man sein Persönlichkeitsbild zumindest überdenken. Mein Ergebnis hieß übrigens: "praktisch keine Anzeichen für Alexithymie".



__________
*Facharzt für Neurologie

4 Kommentare:

  1. Ich wusste, dass das Ergebnis bei mir raus kommt...... finde es aber gar nicht schlimm :-) - mein Umfeld vielleicht eher... aber ich klopfe wirklich NIEMALS 3 mal an

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    1. Ach du Gute! Dich will ich ja irgendwann einfach mal durchknuddeln!
      Ich klopfe nach Gefühl an. Je nachdem was ich denke, wer im Raum ist und wie derjenige zufrieden ist :)

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  2. Ganz toller Beitrag und wieder einmal etwas gelernt bei Dir.
    Das Persönlichkeitsmerkmal ist mir ganz und gar fremd, und den Test brauchen wir eigentlich gar nicht machen. Aber ich bin neugierig. Empathie und das Erlernen und Zulassen von Emotion ist soooo wichtig.
    Lieben Gruß Ina

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    1. Danke Ina!
      Genau, ich finde es ganz wichtig, sich so etwas einfach mal wieder vor Augen zu halten, obwohl wir ja alle wissen, wie man es richtig man und wie man "richtig liebt".

      Lieblingsgrüße!

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